Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen am Arbeitsplatz
Bild: Guide zur Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen am Arbeitsplatz (Schneider, G. (2019) B A D))
Seit Ende 2013 fordert das deutsche Arbeitsschutzgesetz von den Betrieben die Berücksichtigung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen am Arbeitsplatz. Dies bedeutet, dass alle Unternehmen und Organisationen ab einem Mitarbeiter[1] jene Gefährdungen analysieren, aus denen sich Belastungen bei der Arbeit ergeben.
Bei kleineren Betrieben eignet sich das qualifizierte Gespräch mit dem Mitarbeiter, bei Betrieben mit > 10 - 15 Mitarbeiter eignet sich eine Befragung via Fragebogen mit einer anschließende qualifizierten Auswertung und Darstellung der Folgemaßnahmen. In der Befragung haben sich folgende Methoden bewährt:
- Schriftliche Befragung / Fragebogen (online oder in Papierform)
- Beobachtungen am Arbeitsplatz
- Interviews
- moderiert Workshops
Wohlbefinden und psychische Gesundheit sind wichtige Voraussetzungen, damit Mitarbeiter motiviert und leistungsfähig arbeiten können. Mit der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen ist es möglich zu erfahren, was Mitarbeiter belasten könnte und welche Rahmenbedingungen entsprechend verbessert werden könnten. Neben der Erhöhung der Arbeitszufriedenheit, der Sicherung bzw. Steigerung der Leistungsfähigkeit besteht auch die Chance durch diese Maßnahme die Mitarbeiterbindung ans Unternehmen zu erhöhen.
Psychische Belastung am Arbeitsplatz
Die psychische Belastung am Arbeitsplatz resultiert aus einer Vielzahl von ganz unterschiedlichen Einflüssen, z.B. die Arbeitsintensität, die soziale Unterstützung, die Dauer, Lage und Verteilung der Arbeitszeit aber auch Umgebungsfaktoren wie Lärm, Beleuchtung und Klima. Nach der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) werden die psychischen Belastungen bei der Arbeit wie folgt unterteilt:
- ungenügend gestaltete Arbeitsaufgaben
(z.B. überwiegende Routineaufgaben, Über-/Unterforderung) - ungenügend gestaltete Arbeitsorganisation
(z.B. Arbeiten unter hohem Zeitdruck, wechselnde und/oder lange Arbeitszeiten, häufige Nachtarbeit, kein durchdachter Arbeitsablauf; Monotonie, häufige Wiederholungen) - ungenügend gestaltete sozial Bedingungen
(z.B. fehlende sozial Kontakte, ungünstiges Führungsverhalten (Dämon 2017), mangelhafte Kommunikation, Konflikte, Stigmatisierung, Mobbing, Sucht, Depressionen, negativer Stress, Burnout) - ungenügend gestaltete Arbeitsplatz- und Arbeitsbedingungen
(z.B. Lärm, Klima, räumliche Enge unzureichende Wahrnehmung von Signalen und Prozessmerkmalen, unzureichende Softwaregestaltung) - Sonstige psychische Gefährdungen (BAuA 2014)
In der Norm DIN EN IS 10075, "Ergonomische Grundlagen bezüglich psychischer Arbeitsbelastung" ist die "psychische Belastung" klar definiert als: "Gesamtheit aller erfassbaren Einflüsse, die von außen auf den Menschen zukommen und psychisch (seelisch) auf ihn einwirken". Während physische Belastungen sich z.B. auf Muskeln, Knochen, Gelenke und Haut auswirken, wirken psychische Belastungen auf das Gehirn, also dem Denken, Lernen, Gedächtnis, Konzentration und Empfindungen. Mittlerweile weiß man, das psychische Belastungen noch viel weitreichender gehen und negative Belastungen auf die Organe und den Bewegungsapparat des Menschen (z.B. Muskelverspannungen) haben können[2].
Eine Arbeit ohne eine psychische Belastung im Sinne eines Reizes ist nicht vorstellbar. Ähnlich wie bestimmte Arten und Ausprägungen körperlicher Belastungen gesundheitsgefährdend sein können, kann auch die psychische Belastung bei der Arbeit beeinträchtigende Wirkungen auf die Gesundheit haben, z.B. durch andauernd hohe zeit- und leistungsbezogene Anforderungen oder bei ungünstig gestalteter Schichtarbeit. Aus diesem Grund empfiehlt sich eine strukturierte Vorgehensweise[3]:
- Schritt 1: Festlegung von Tätigkeiten/Bereiche, die für die Gefährdungsbeurteilung durchgeführt werden soll
- Schritt 2: Ermittlung der psychischen Belastung
- Schritt 3: Ermittlung der psychischen Belastung der Arbeit
- Schritt 4: Entwicklung und Umsetzung von geeigneten Maßnahmen (falls erforderlich)
- Schritt 5: Kontrolle der Wirksamkeit der umgesetzten Maßnahmen (falls erforderlich)
- Schritt 6: Aktualisierung/Fortschreibung der ermittelten Ergebnisse und
- Schritt 7: Dokumentation
Bild: 7 Schritte zur erfolgreichen Erhebung psychischer Belastungen am Arbeitsplatz
https://www.arbeitsrecht.org/shop/psychische-belastungen-am-arbeitsplatz/
Im folgenden Bild werden die möglichen kurzfristigen und langfristigen negativen Folgen einer psychischer Belastungen dargestellt.
Idealerweise erfolgt die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen am Arbeitsplatz in fünf Abschnitten:
- Untersuchung der Arbeitsinhalte / Arbeitsaufgabe
- Untersuchung der Arbeitsorganisation
- Untersuchung der sozialen Beziehungen
- Untersuchung der Arbeitsumgebung
- Untersuchung der neuen Arbeitsformen
Damit die Gefährdungsbeurteilung gelingt, kommt es darauf an, dass
- die Geschäftsführung das Vorhaben zu 100% unterstützt (!),
- die Führungskräfte und Interessenvertreter aktiv eingebunden werden,
- alle Schritte transparent erklärt werden,
- die Anonymität der Befragungsergebnisse garantiert ist (Datenschutz!),
- Konkrete Ziele und Maßnahmen aus der Beurteilung entstehen (soweit erforderlich),
- die Wirksamkeit der Maßnahmen zu überprüfen (falls erforderlich).
Bild: Mögliche negative Folgen psychisch wirkender Belastungen (www.verdi-gefaehrdungsbeurteilung.de)
Ein ganz entscheidender Punkt für das Gelingen der Gefährdungsbeurteilung ist der vorherige transparente Dialog mit dem Mitarbeiter, damit dieser den Sinn und Zweck der Beurteilung versteht und es nicht zu einer Ausprägung von Vorurteilen kommt, z.B. durch die Gefährdungsbeurteilung der psychischen Belastungen am Arbeitsplatz sollen leistungsschwache Mitarbeiter identifiziert, stigmatisiert oder ausgesondert werden. Auch während des Prozesses ist Kommunikation/Dialog ganz wichtig!
Die Aufgabe der Gefährdungsbeurteilung ist es auch, Fehlbeanspruchungen aufzuzeigen, die Beschäftige in ihrem Arbeitsalltag erleben. Die Hauptfrage lautet dabei "Was belastet mich bei der Arbeit?" Entsprechende "Auslöser" könnten wie folgt lauten:
- wie ist die Arbeit organisiert / geplant?
- liegen mir alle Informationen vor, damit ich meine Arbeit gut machen kann?
- wer ist für was genau zuständig und verantwortlich?
- einseitige Aufgaben ohne Abwechslung (Monotonie)
- meine Ideen, Verbesserungsvorschläge werden nicht / zu wenig aufgegriffen
- zu wenig oder keine Rückmeldung über meine Arbeit
- Störungen / Unterbrechungen während meines Arbeitens
- Ständiger Zeit- und Termindruck bei der Arbeit
- meine Arbeitszeiten (z.B. Schichtarbeit)
- die Länge meiner vereinbarten Arbeitszeit
- Druck, das ich Überstunden machen muß
- schlechte Planbarkeit meiner Arbeitszeiten und meiner Freizeit / Urlaub
- ständige Erreichbarkeit, auch in meiner Freizeit
- herablassende Behandlung durch Kunden, Klienten o.ä.
- keine wertschätzende Behandlung von anderen Mitarbeitern oder Vorgesetzen
- keine oder zu wenig Unterstützung durch Kolleginnen und Kollegen
- das ich meine Gefühle beim Arbeiten verbergen muß
- keine oder nicht ausreichende Qualifizierung für meine Arbeit
- mangelhafte oder behindernde Arbeitsmittel, z.B. nicht ergonomischer Schreibtisch, Computer-Software, Werkzeuge etc.)
- schwere körperliche Arbeit (heben, tragen, stemmen etc.)
- einseitige körperliche Arbeit (Zwangshaltungen, langes Stehen, Sitzen etc.)
- widrige Umgebungsbedingungen (Zugluft, Lärm, Gerüche o.ä.)
- Gefahrenpotentiale, die meine Gesundheit beeinträchtigen können (Verletzungs- oder Unfallgefahren, Gefahr von Überfällen, Todesangst o.ä.)
Laut einer Umfrage der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin beziehen weniger als 10% der Betriebe die Untersuchung psychischer Belastungen in ihre Gefährdungsbeurteilung des Arbeitsplatzes mit ein. Als Hauptgrund hierfür wird angegeben, dass sich eine Verschlechterung des Betriebsklimas und der Leistungsfähigkeit entwickeln könnte. Dies gilt insbesondere für kleine Betriebe. Großbetriebe reagieren i.d.R. viel aufgeschlossener und haben ein hohes Interesse daran, das ihre Mitarbeiter möglichst optimal arbeiten können.
Ein weiterer Faktor sind die Emotionen, die bei der Arbeit entstehen und oft nicht immer ausgelebt werden können oder dürfen. So ist die emotionale Inanspruchnahme von Servicepersonal hoch, also z.B. gegenüber einem Kunden freundlich sein zu müssen, obgleich dieser die Servicekraft unfreundlich attackiert. Es entsteht ein hoher Leistungsdruck innerhalb der Interaktion Mensch zu Mensch. Der Mitarbeiter lächelt trotzdem und versucht beherrscht und freundlich zu lächeln. Natürlich ist dieses Verhalten aufgesetzt, man spricht auch vom "Surface-Acting". Im Inneren betrachtet würde der Mitarbeiter dem Kunden am liebsten an den Kragen gehen, hier spricht man von "Deep-Acting".
Einfluss von Emotionen bei der Arbeit
Der Einfluss von Emotionen in die Arbeit ist besonders stark, wo den Mitarbeitern menschliches Leid entgegentritt, z.B. Alten- und Pflegeheime, Krankenhäuser, Rettungsdienste etc. Bei der Arbeit wird man von Krankheit, Siechtum, Tod emotional berührt und das kann nicht so ohne weiteres abgeschüttelt werden. Hierfür benötigt es Instrumente / Verhaltenstechniken um diesen Druck auszuhalten, zu verarbeiten und im Idealfall sogar positive Energie daraus zu ziehen. Hier kann die Positive Psychologie mit ihren Erkenntnissen helfen. Die Wissenschaft der "Positiven Psychologie" (Proyer 2013, 2015; Proyer et al. 2015) zeigt Möglichkeiten und Chancen auf, wie Mitarbeiter solche belastenden Situationen erfolgreich meistern und sogar gestärkt werden können. Im Idealfall entwickelt sich für den Mitarbeiter aus einer negativen Belastungssituation ("Negativspirale") ein Wechsel zu einer positiven Beanspruchungssituation ("Positivspirale") (Fredrickson2002).
Eine psychische Störung oder Erkrankung stellt sich i.d.R. nicht von jetzt auf gleich ein, sondern kann u.U. sogar einen langjährigen Prozess benötigen. Im wahrsten Sinne des Wortes ist irgendwann einmal das Fass voll und es kommt oftmals durch eine Kleinigkeit zur Eskalation / zum psychischen Unfall. Dabei ist der dann dabei auslösende Grund nicht die Hauptursache der Eskalation. Oftmals kommen bei der Eskalation am Arbeitsplatz auch noch persönliche Probleme hinzu. Somit kann die auffällige Verhaltensänderung eines Mitarbeiters am Arbeitsplatz positiv verändert werden, wenn von Seiten des Arbeitgebers die private Problematik angesprochen und betreut wird. Diese von Unternehmen angebotene Sozialberatungsleistungen wird auch als "Employee Assistance Programm" (EAP-Programm) bezeichnet. Solch ein EAP-Programm kann Bestandteil eines guten BGMs sein.
In vielen Fällen kann eine rechtzeitige Wahrnehmung von ersten Anzeichen schwere Probleme verhindern. Folgende Signale können Indikatoren für hohe psychische Belastungen sein:
- Nachlassende quantitative Arbeitsleistung des Mitarbeiters
- Nachlassende Qualität der Arbeit (Fehler, Falschausführungen usw.)
- Verändertes allgemeines Verhalten gegenüber Vorgesetzen und Kollegen/innen
- Unmutsäußerungen zu den Arbeitsanforderungen bis hin zu direkten Beschwerden
- Erhöhtes Verweigerungsverhalten
- Übermäßig praktizierter schwarzer Humor (Szeliga 2011, 2020).
- Rückzug aus dem sozialen Gefüge; scheinbar geistige Abwesenheit, ungewöhnliche Schweigsamkeit
- Zynische Bemerkungen über/zu Kollegen oder über die Geschäftspolitik
- Scheinbar grundlose Auseinandersetzung mit Kollegen / Kolleginnen
- Häufige Fehlzeiten
- Hinweise auf Rauschmittelkonsum (insbesondere Alkohol, starkes Rauchen, Tabletten etc.)
Das Ziel der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen am Arbeitsplatz muß es sein, Lösungswege für eine "gesunde Arbeit" aufzuzeichnen, die Anreize, Möglichkeiten der Entfaltung und Entwicklung bietet, Bewährungs- und Erfolgserlebnisse zulässt und gleichzeitig nicht überfordernd wirkt. Mit Hilfe der Positiven Psychologie ist es möglich, diesem Ziel im Arbeitsalltag näher zu kommen.
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[1] das gilt auch für Halbtagskräfte und Geringfügig Beschäftigte
[2] … „Das letzte Gespräch mit meinem Teamleiter schlug mir mächtig auf meinen Magen“
[3] vgl. Empfehlungen zur Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen. Leitlinien der GDA (Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie) (2017).